Uwes Kolumne: Die Mädels rocken
Neulich erst, als ich die Treppe zum Obergeschoss unter schweren Strapazen erklommen hatte, verweilte ich kurz vor der Aquarellzeichnung einer ehemaligen Kollegin. Sie zeigt ein Bild von meiner Tochter Bianka als Baby. Ich lächelte – niedlich sah sie aus. Just in diesem Moment bog der hoffnungsvolle Nachwuchs vor meiner Nase in Richtung Badezimmer ab.
Das bedeutete für mich: Das Badezimmer war nun für die kommende Stunde annektiert. Das ehemals so niedliche kleine Teppichungeheuer war jetzt bereits 16 Jahre alt. Ähnlichkeiten mit der Zeichnung waren nur noch in rudimentärer Hinsicht vorhanden.
Aus dem Zimmer der „Zweitausgabe“ Maike drang laute Musik. Das hörte sich nach Linking Park an, die CD hatte sie von mir. Maike war 13 und teilte meinen Musikgeschmack zum großen Teil.
Ich war schon überrascht, als sie mich letztens baten, Karten für ein Konzert einer ihrer Lieblingsbands zu bestellen. Jung bleiben wollte ich ja eh – zumindest im Kopf. Ich war der festen Überzeugung, mich könne nichts mehr überraschen. Wie man sich doch irren kann. Meine Mädels hatten mich erfolgreich bekniet, Karten für ein Deutschlandkonzert der japanischen Band Plunklock zu besorgen.
Das ist so genannter J-Rock, eine Visual Kei Band. Das bedeutet, dass sich die Bandmitglieder so kleiden, schminken und stylen, wie das ihre Helden aus den japanischen Mangas oder Animees (Comics und Zeichentrickfilme) tun. Hoffentlich habe ich das jetzt richtig beschreiben, denn ansonsten reden die beiden Töchter wieder eine ganze Woche lang nicht mehr mit mir.
Ich wollte die beiden nicht alleine in das unbekannte Gebiet Livekonzert entlassen, also hatte ich mir eine Karte mitbestellt. Die Location war mir bis dato unbekannt: das K-17 in der Pettenkofferstraße in Berlin. Genauer gesagt an der Grenze zwischen Friedrichshain und Lichtenberg. Irgendwie wirkte die ganze Gegend etwas, na ja, einsam. Ein leichtes Unwohlsein beschlich mich. Das wurde auch nicht besser, als wir auf ein altes Fabrikgelände kamen, um dort dann im Hinterhaus der zweiten Fabriketage den Konzertsaal zu suchen. Sagte ich Saal? Meine erste Wohnung war ja größer! Na schön, ich gebe es zu, 150 Leute hätten in die Wohnung nicht gepasst. Anwesend waren ca. 60 bis 70 Leute, inklusive Personal. Das Durchschnittsalter habe ich deutlich nach oben beeinflusst. Die vorwiegend weiblichen Fans waren irgendwo zwischen 12-16 Jahre alt. Immerhin, ich war nicht das einzige Elternteil.
Die Band aus Japan legt pünktlich los. Es gab eine Mischung aus Punkrock, Speed Metal, Apollo 440 und Linkin Park. Ein Stück klang, als würde man einen Europop-Song à la „Dragostea din tei“ von Metallica spielen lassen. Leider verstand ich kein Wort. Mein Japanisch ist in letzter Zeit doch etwas eingerostet. Die Band spielte mit dem Publikum, der Sänger Halo hatte etwas Charismatisches. Die berühmte Pommesgabel-Geste von Ronnie James Dio, das Mitsingen im Wechsel mit dem Publikum oder der Faxen machende Drummer Pinky: Die Jungs boten eine gute Show. Trotzdem war ich etwas verblüfft, als ich meine Mädels hopsend und headbangend vor der Bühne sah, die Hand mit der bekannten Geste nach oben gestreckt.
Meine Mädels rocken!? Echt? Gestern, so kam es mir vor, haben die beiden doch noch zarte Kinderlieder gehört. Ich wurde nachdenklich. Es gab noch eine Zugabe von 20 Minuten, an deren Ende der Drummer seine Getränkeflasche ins Publikum warf, genau in die Hände meiner Tochter Bianka. Die wurde dann bei der anschließenden Autogrammstunde sofort signiert. Die Herren signierten alles. Nur Fotos und Anfassen war nicht erlaubt.
Zuhause angekommen wies meine Tochter die Herrscherin über den Haushalt an, nur ja nicht die angebrochene Wasserflasche mit den Autogrammen wegzuwerfen. Vermutlich steht sie immer noch bei ihr im Zimmer.
Am nächsten Morgen blickte ich aus dem Terassenfenster versonnen auf die bunte Kinderschaukel und die Rutsche, dazwischen projizierte mein Hirn immer wieder das Bild meiner rockenden Mädels. Mit einem tiefen Seufzer beschloss ich, die Spielgeräte zu demontieren und zu entsorgen. Das erwies sich nicht als ganz einfach, aber das ist schon wieder eine ganz andere Story. (Text: Uwe Abel, Foto oben: Maike Abel)
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