Scheibes Kolumne: Ich bin eine Brillenschlange
Mit meiner Brille ist das so eine Sache. In meiner Kindheit hat mich niemand damit aufgezogen, gehänselt oder gepiesakt. Niemand hat „Vierauge“ oder „Brillenschlange“ zu mir gesagt. Was vielleicht auch daran lag, dass ich als Kind gar keine Brille hatte.
Die kam erst sehr spät auf meine Nase. In der achten oder neunten Klasse musste ich bereits die Augen zusammenkneifen, um aus der letzten Reihe heraus sehen zu können, was der Lehrer da auf die Tafel kritzelte. Schlimm wurde es, als ich – damals noch in Berlin wohnend – eines Tages den U-Bahnhof „Onkel-Toms-Hütte“ betrat und staunte, dass mir vom anderen Ende des Bahnsteigs ein wunderschönes, fremdes Mädchen entgegenkam, das mir flirtend und sehr zutraulich zuwinkte. Erst, als ich mit klopfendem Herzen ganz nah herangetreten war, sah ich, dass es in Wirklichkeit ein sehr hässlicher Kumpel von mir war.
Ich bekam dann so eine Harry-Potter-Brille mit dicken, schwarzen Rändern. Die liebe ich im Grunde genommen heute noch.
Ich hatte nie ein gespaltenes Verhältnis zu meiner Brille, erlaubte sie es doch, meine Umwelt klar und deutlich wahrzunehmen – und nicht so, als hätte man ein Foto mit dem Pixelize-Effekte verfremdet. Auch die Fehlerquote beim Umarmen meiner Freundin reduzierte sich dank Brille sehr.
Mit der Brille gibt es nur ein großes Problem: Ich kann damit kein Glas erkennen. Eine Glastür oder ein Fensterflügel bleiben für mich völlig unsichtbar.
Einmal war ich am Kudamm in Berlin in einem Steakhaus. Wir saßen draußen im Freien, drinnen gab es die Salatbar. Ich durfte mir nur einen Teller holen und stapelte Salat, Gurken, Mais, Bohnen und Croutons bis an die Grenzen der physikalischen Machbarkeit – um das dann noch mit einem fetten Klacks Dressing zu beträufeln. Auf dem Weg zurück zum Tisch im Freien musste ich den Teller so ausbalancieren, dass die Soße nicht vom Tellerrand tropfte. Das sollte nicht mein größtes Problem bleiben. Denn jemand hatte die Eingangsglastür geschlossen – und das konnte ich ja nicht sehen.
Also lief ich ungebremst gegen die Glastür und drückte dabei den ganzen Salatteller klirrend und scheppernd gegen die Glasscheibe. In einem irrsinnig langsamen Tempo glitschten die Soße, die Maiskörner und die Salatblätter die Glastür hinab auf den Teppich – während sich wegen dem Krach alle Gäste im und außerhalb des Restaurants umdrehten und zur Tür wandten. Ich beseitigte das Malheur – und durfte dann noch einmal zur Salatbar.
Einen ähnlichen Unfall hatte ich Jahre später noch einmal in einem Supermarkt. Ich lief mit großen Schritten in den Eingangsbereich und dachte, gleich schwingt die Glastür auf. Das passierte aber nicht, stattdessen rannte ich einmal mehr frontal gegen die für mich unsichtbare Glasfront. Dadurch wurde der Türmechanismus ausgelöst – und die seitwärts angebrachte Tür schwang so ungünstig auf, dass sie mich von hinten noch weiter an die Glastür drückte. Ich blutete mit meiner geprellten Nase also die Scheibe voll, während alle einkaufenden Kunden an den Kassen direkt dahinter ihre Körbe stehen liessen und mich mit offenen Mündern angafften. Es dauerte gefühlt Stunden, bis die Automatiktür endlich wieder zurückschwang und mich freigab.
Seitdem strecke ich immer einen Finger in Hüfthöhe aus, wenn ich glaube, vor mir „könnte“ eine Glastür sein. Lieber ein gebrochener Finger als noch einmal so zur Belustigung des Volkes beitragen.
Leider werden die Augen nicht besser. Ohne Brille denke ich inzwischen, ich bin direkt in einer Verfilmung von „The Fog: Nebel des Grauens“ angekommen: Ich erkenne nix mehr.
Die Brille ist bei vier Dioptreen aber schon so stark, dass ich als Kurzsichtiger mit der Brille auf der Nase nicht mehr lesen kann. Also schiebe ich sie dann auf der Nase nach unten und schiele drüber. Das sieht aus wie bei einem alten Opa, schimpfen meine Kinder. Na wartet, bis ihr eine braucht. (Carsten Scheibe)
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