Das fehlende Geschenk
Müde und etwas abgespannt war der Weihnachtsmann. Das war kein Wunder. Mit seinem Rentier-Schlitten hatte er gerade den Großraum Berlin bereist und war dabei über Tegel fast mit einer Lufthansa-Maschine zusammengestoßen. Jetzt freute sich der Weihnachtsmann auf seinen wohlverdienten Feierabend. Nur noch die Kinder in Falkensee mussten alle beschenkt werden, dann hatte der Weihnachtsmann für dieses Jahr seinen Job getan und konnte wieder zum Nordpol zurückkehren.
Dort wartete ein prasselndes Lagerfeuer auf ihn. In einem gemütlichen Sessel sitzend könnte er dann bestimmt seine verfrorenen Zehen an den Flammen wärmen.
So sehr träumte der Weihnachtsmann vom gemütlichen Ausspannen bei im Feuer knackenden Holzscheiten, dass er ein wenig unachtsam wurde. So kurvte er zu schnell und zu scharf über die Turmspitze der Dorfkirche hinter dem Haus am Anger hinweg. Die Spitze verhakte sich kurz in den Kufen des fliegenden Schlittens und rüttelte diesen ordentlich durch.
Unbemerkt von den Rentieren und auch vom Weihnachtsmann fiel ein einzelnes Geschenk aus dem Sack des Weihnachtsmannes auf den Schlitten, rutschte über das Holz und plumpste dann hinunter. Es landete mitten auf dem Dach der Kirche und verhakte sich hier – unsichtbar für alle Menschen im Ort. Auf dem rot eingewickelten Geschenk war mit der krakeligen Schrift des Weihnachtsmannes ein Mädchenname geschrieben – Alexandra.
Nur wenig später landete der Weihnachtsmann auch schon auf dem Platz vor dem Angersee. Hier standen bereits eine ganze Menge kniehoher Elfen fröstelnd in der Kälte. Ihre grünen Hosen und Jäckchen waren viel zu dünn für das Winterwetter. Und auch die roten Mützen wärmten nicht wirklich. Bibbernd zeigten die Elfen auf den großen Sack mit den Geschenken. Na endlich.
Die Elfen waren mit der Regionalbahn aus Berlin nach Falkensee gekommen, am Herlitzbau ausgestiegen und den ganzen Weg bis hinauf zum Haus am Anger getippelt, so, dass niemand sie sehen konnte. Nur ein paar Betrunkene aus dem Schrääg rüber hatten einen Elfen erblickt. Aber die sahen auch weiße Mäuse und wunderten sich nicht weiter. Die Elfen hatten übrigens mit der Bahn fahren müssen, weil sie nicht mehr mit auf den Schlitten gepasst hatten.
Ohne ein weiteres Wort packten die Elfen mit kräftigen Händen zu und luden alle Pakete vom Schlitten. Für jedes Kind in Falkensee gab es ein eigenes Präsent. Jeder Elf nahm sich ein paar Geschenke und legte sie in den Korb eines kleinen grünen Elfenfahrrads. Die kleinen Fabel-Postboten machten sich dann schnell auf den Weg und verschwanden – stehend in die Pedalen tretend – in der dunklen Nacht. Neben Betrunkenen können übrigens nur Kinder die Elfen sehen. Aber um die späte Uhrzeit schliefen die Kinder ja bereits alle.
Als die Elfen mit klappernden Rädern hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, atmete der Weihnachtsmann tief durch, hielt sich den dicken Bauch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war ganz schön geschafft. Die Geschenke, die er aus der Weihnachtswerkstatt in die verschiedenen Länder brachte, wurden auch immer schwerer. Gameboys, Computerspiele, dazu MP3-Player und ferngesteuerte Spielzeuge – mit ein paar Orangen und einem Säckchen Nüsse ließen sich die Kinder längst nicht mehr abspeisen.
Schnell wuchtete der Weihnachtsmann seinen dicken Bauch auf den Schlitten und schnallste mit der Zunge. Die Rentiere zogen den Schlitten wieder hoch in die Luft. Der Weihnachtsmann drehte noch eine Runde und flog dann über die Gutspark-Schule und dann über den Hofladen hinweg bis zum Havelpark. Er kratzte sich den Wanst: Vielleicht kriegte er hier ja noch eine Minipizza? Bis zum Nordpol war der Weg weit und im Inneren des Weihnachtsmannes grummelte der Hunger.
Nur ein paar Kilometer von dieser Stelle entfernt war ein kleiner Elf inzwischen der Verzweiflung nahe. Er hatte noch ein einziges Haus zu besuchen, aber in seinem Fahrradkorb war leider kein Geschenk mehr zu finden. Auf seinem Plan stand nur noch ein Name, der noch nicht durchgestrichen war: Alexandra. Heiliger Strohsack, ob der Weihnachtsmann das Paket wohl unterwegs verloren hatte? Nun, der Weihnachtsmann war schon weit weg, unerreichbar für den kleinen Elf. Der Elf setzte sich auf den Bürgersteig und weinte gar bitterlich. Das war ja noch nie passiert, nicht in hundert Jahren nicht. Noch immer hatten die Kinder rechtzeitig ihre Geschenke erhalten. Wie würde sich denn da die kleine Alexandra fühlen? Wenn sie nun das ganze Jahr über brav gewesen war und dafür nicht das allerkleinste Geschenk erhielt? Undenkbar. Der arme Elf schluchzte weiter, dabei war er gar nicht schuld an der Misere. Das wusste er natürlich nicht. Sein Geheule war für die Erwachsenen unhörbar, weckte aber die Kinder Linus und Alisa aus dem benachbarten Haus auf.
Die beiden Kinder schlichen sich aus dem Haus, fanden den Elf neben seinem Fahrrad vor und trösteten ihn. “Was hast du denn?”, fragten sie. Unter Tränen und Geschluchze erzählte das kleine Fabelwesen, was passiert war. Sofort boten die beiden an, dem Elf zu helfen. Sie beschlossen, einfach den Weg noch einmal abzulaufen, den der Elf von der Landestelle des Weihnachtsmannes aus genommen hatte. Vielleicht war das Paket ja wirklich nur vom Fahrrad gefallen? Unterwegs sammelten Linus und Alisa noch ein paar Steinchen auf. Sie warfen sie an das Fenster vom Nachbarhaus, dort, wo Chiara schlief. Es dauerte keine fünf Minuten, dann war Chiara auch dabei. Auf diese Weise holten sie auch noch Alina, Cedric, Tabitha und Janick aus den Betten. Sie weihten die Freunde ein und suchten die ganze Gegend ab. Nur Janick schimpfte leise: Er hatte sich ganz schlaftrunken weder Socken noch Schuhe angezogen und fror nun an den Füßen. Trotz aller Bemühungen: Das Geschenk konnte leider nicht gefunden werden.
Der Elf und die Kinder beratschlagten, was nun zu tun sei. Konstantin, der auch noch mit hinzugekommen war, hatte eine gute Idee. “Wenn jeder von uns ein Spielzeug nimmt, das er entbehren kann, und es dann Alexandra schenkt, dann merkt sie doch gar nicht, dass ihr Geschenk fehlt.”
Na, das war doch mal eine gute Idee. Schnell suchten die Kinder in ihren Spielzimmern nach einem passenden Präsent. Alisa brachte eine Barbie mit, Linus ein Computerspiel, Konstantin Aufkleber für ein Sammelalbum, Alina ein Auto. Chiara hatte ein Gummitier für die Badewanne. Auch die anderen fanden noch ein tolles Präsent. Alles landete in einer Kiste, die der Elf schnell verpackte. Während sich die Kinder wieder in ihre Häuser und ins Bett trollten, brachte der Elf das Paket ins Haus von Alexandra.
“Puh, das ist ja gerade noch einmal gut gegangen”, ächzte der Elf. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, stampfte mit dem Fuß auf und war verschwunden. Sein Fahrrad übrigens auch.
Als der Weihnachtstag anbrach, wunderten sich die Eltern. Die Kinder hatten gar keine rechte Lust darauf, ihre eigenen Geschenke auszupakken. Stattdessen baten sie um Erlaubnis, Alexandra besuchen zu gehen. Am späten Nachmittag klingelte ein Kind nach dem anderen Sturm bei Alexandra.
Alexandra war überrascht. Sie hatte gerade ein dickes Paket mit ganz vielen Geschenken ausgepackt. Doch jetzt freute sie sich noch mehr: “Dass ihr mich alle am Weihnachtstag besuchen kommt, ist für mich das schönste Geschenk”. (Carsten Scheibe)
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