Glosse: Langsames Tempo!
Morgens ist es immer ein Kampf. Das eine Kind springt munter aus dem Bett, schlüpft in seine Sachen, poltert die Treppe hinunter und sitzt schneller am Frühstückstisch, als man den ersten Toast schmieren kann. Das andere Kind hingegen ist nicht zu sehen. Dreiviertel Sieben – kein Kind da. Sieben – kein Kind in Sichtweite.
Alles Hochrufen bringt nichts, aus dem Kinderzimmer ist nur ein Grunzen zu vernehmen, als hätte sich hier eine Horde Wildschweine eingenistet. Dann, wenn alle sich schon fertig machen, um das Haus zu verlassen, kommt Kind 2 langsam herangeschlurft, setzt sich muffelig an den Tisch, lässt die Haare in den Orangensaft hängen und entwickelt auf einmal den irrwitzigen Heißhunger eines siebenköpfigen Drachen. Toast um Toast verschwindet im Kind, während der Zeiger sich viel zu schnell der halb Acht nähert: Zeit, um zur Schule zu fahren.
Kind 1, das es eben noch so vorbildlich eilig hatte, steht derweil vor dem Spiegel im Flur und schickt sich an, sich für die Schule fertig zu machen. Ich ordne an: Jacke anziehen, die guten Schuhe, Schal, Mütze. Frühstück in die Schultasche packen, ein Getränk dazu. Hast du auch die Hausaufgaben eingesteckt? Wenn du noch Zeit hast, dann füttere doch bitte den Hund.
Dann ist es auch schon so weit, dass Kind 2 mit aller Macht gedrängelt werden muss. Damit es schneller geht, helfen wir beim Zähneputzen, Haare bürsten, Schuhe suchen, Mütze aufspüren. Die Schultasche ist noch oben? Ach herrjeh. Während das alles rasch mit klopfendem Herzen gemanagt wird und der Blick auf die Uhr immer häufiger erfolgt, ist Kind 1 sicherlich schon fertig. Denkste. Es steht immer noch vor dem Spiegel, in exakt der gleichen Haltung wie noch vor 10 Minuten. Ist es etwa eingeschlafen? Mit offenen Augen?
„Los, los, los, Tempo, Tempo.“ Der Ton wird rauer, das Gezerre an den Kindern immer hektischer. Mit quietschenden Reifen geht es los zur Schule. Trotz all dem Chaos kommen wir doch noch pünktlich an. Kind 1 mosert: „Na, toll, das Tor ist ja noch nicht mal offen. Jetzt stehen wir hier blöd rum.“ Tja, es hat noch niemandem geschadet, rechtzeitig in der Schule zu sein.
Abends geht der Krieg dann weiter. Die Kinder sind nach der Schule viel zu kaputt, um heruntergefallene Handtücher und Zahnputzchremedeckel aufzuheben. Und nicht nur das: Beim Zähneputzen entdecken sie das Prinzip der Langsamkeit wieder. Erst putzen sie einen halben Zahn, dann machen sie ein Päuschen. Dann putzen sie einen anderen halben Zahn – und machen wieder ein Päuschen.
Nur wenn es dann darum geht, vor dem Schlafen noch eine halbe Stunde fernzusehen, dann kommt auf einmal Leben in ihre müden Knochen. Dann springen sie hektisch vor mir auf und ab und rufen: „Mensch Papa, sei doch nicht so lahm. Wegen dir verpassen wir noch das Beste.“
Aber ich hab die Fernbedienung verlegt. Und bevor ich nach ihr suche, muss ich mich mal gaaaanz kurz hinsetzen und ein wenig ausruhen. Ätsch. (Carsten Scheibe)
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