Der Weihnachtsmann ist da!
Lulu lief auf Socken ins Wohnzimmer, streckte sich dabei in ihrem Nachthemd und linste um den ausladenden Weihnachtsbaum herum, ob da wohl der Hund unter den baumelnden Kugeln lag. Fehlanzeige. Der weiße Golden Retriever saß vor dem Kamin und starrte ihn an, als würde da eine dicke Wurst im Rohr hängen. Lulu ging ein paar Schritte auf den Kamin zu und kraulte den Hund im Nacken, der sich aber trotzdem nicht umdrehte und weiterhin den Kamin anstarrte.
„Mensch, Fine“, meckerte Lulu. „Dein kleines Frauchen ist doch da. Da musst du dich doch freuen – und wenn es auch noch so früh ist.“
Tatsächlich wackelte der Hund jetzt pflichtbewusst mit dem Schwanz. Lulu bückte sich, um in den Kamin zu schauen. Tatsächlich, da hing doch etwas. Es war ein roter Zipfel mit einer weißen Bommel am Ende. Und ein weißes Gestrüpp war zu sehen – ein Bart? Lulu schreckte zurück: Da war auch eine riesige Gurkennase auszumachen. Au weia. Vielleicht war jetzt doch der perfekte Zeitpunkt gekommen, um das ganze Haus zusammenzuschreien?
„Nein, nein, Lulu. Bitte schrei doch nicht. Ich bin doch der Weihnachtsmann. Ich hab‘ nur leider viel zu viele Kekse in der Weihnachtsbäckerei genascht. Dabei bin ich zu dick geworden. Nun stecke ich im Kamin fest.“
Lulu griff beherzt mit einer Hand in den Bart, der aus dem Kamin hing, mit der anderen fasste sie um die gewaltige Nase des Weihnachtsmanns. Dann zog sie auch schon mit ganzer Kraft.
„Aua, aua! Nein. Lulu, das bringt nichts. Du musst mir auf andere Weise helfen. Die Elfen müssen kommen. Die müssen mich vom Dach aus wieder durch den Kamin nach oben ziehen.“
Lulu stemmte die Hände in die Hüfte. Dann hob sie den Zeigefinger und fuchtelte damit dem Weihnachtsmann vor der Knollennase herum. „Na, du machst ja Sachen. Wenn ich das meinen Eltern erzähle, das glauben sie mir nie. Nur gut, dass der Hund das bezeugen kann. Sag mal, Weihnachtsmann, was machst du denn heute morgen schon hier? Weihnachten ist doch erst morgen.“
Der Bart bebte im Kamin: „Ich wollte doch nur noch mal den Weg überprüfen, damit ich morgen alles in Rekordzeit schaffe. Und jetzt diese Misere. Kannst du mir helfen?“
Lulu bohrte gedankenverloren mit dem Finger in der Nase. „Was kann ich denn tun? Soll ich dir das Telefon geben, damit du am Nordpol anrufen kannst?“
Wieder wackelte der Bart: „Nein, da gibt es leider kein Telefon. Du musst leider direkt hinfahren. Selbst. Und zwar sofort. Ich kann hier auch gar nicht mehr lange hängen. Mir läuft ja schon das ganze Blut in die Nase.“
„Soll ich mir ein Taxi rufen? Wie stellst du dir das denn vor? Ich geh‘ ja gerade einmal auf die Grundschule. Ich hab‘ nicht mal Geld.“
Die Stimme aus dem Kamin war ganz schnell wieder da. „Draußen bei euch im Garten steht mein Rentier-Schlitten. Damit musst du in den Wald von Brieselang fliegen. Da leuchtet manchmal ein Licht im Wald, da hast du vielleicht schon von gehört. Da gibt es eine unterirdische Direktverbindung zum Nordpol. Von dort aus kommst du ganz schnell zu den Elfen. Die wissen dann schon, was zu tun ist.“
„Mit wem sprichst du denn da?“ Das war Lulus Bruder Addy. Er war von den Stimmen im Wohnzimmer wach geworden und tappste nun auf den Kamin zu. Die Haare standen ihm noch in allen Richtungen vom Kopf ab. Und die Schlafanzugshose hing ihm auf halb Sieben.
„Mit dem Weihnachtsmann. Der hängt im Kamin fest.“
Addy bückte sich und schaute sich die Zipfelmütze, den Bart und die riesige Nase an. „Hallo Weihnachtsmann. Sag mal, Lulu, hast du ihm die Hand geschüttelt?“
„Nein, die steckt doch auch im Kamin fest.“ Lulu wackelte mit dem Kopf. „Du kannst ihm aber gern die Nase schütteln.“
Addy fingerte vorsichtig nach der dicken Nase und quetschte sie. Fast glaubte er, einen langgezogenen Trompetentröter zu hören, aber das war sicherlich nur eine akustische Illusion.
Lulu erzählte Addy alles. Der schaltete schnell, schaute durch das Fenster in den Garten und sah dort tatsächlich einen Schlitten mit zwei Rentieren stehen. „Waren das nicht mal mehr Rentiere?“
Im Kamin brummte es. „Mehr brauche ich nur, wenn ich auch die schweren Geschenke geladen habe. Für mich alleine, da reichen auch zwei Rentiere völlig aus.“
„Gut, dann werden wir uns mal besser beeilen. Ich mach dir rasch noch einen warmen Kakao mit Strohhalm und stelle ihn in den Kamin. Dann hast du wenigstens etwas zu Trinken, wenn wir weg sind. Aber schlürf bitte nicht so laut, wenn Mama und Papa wach sind.“
Lulu brachte den Kakao, während Addy bereits Jacken, Schals, Mützen und Schuhe rauslegte. Da Lulu in dem Bartgestrüpp des verkehrt herum im Kamin hängenden Weihnachtsmannes den Mund nicht finden konnte, steckte sie den Strohhalm dem Weihnachtsmann einfach in die Nase. Ein protestierendes Gegurgel kam aus dem Kamin.
Addy schrieb einen Zettel für die Eltern: „Sind Brötchen holen“. Mehr nicht, das würde sonst verdächtig klingen. Dann zogen sich die beiden Geschwister an und stapften hinaus in den Garten. Von nahem sah der Schlitten riesig aus, sie würden bestimmt an seiner Seite hochklettern müssen, um Platz zu nehmen. Und die Rentiere waren auch gewaltig, viel größer als Pferde. Das mit der rot glühenden Nase fehlte allerdings.
Lulu und Addy erklommen den Schlitten und Addy griff nach den Zügeln. „Ho! Ho!“, rief er gerade so laut, dass es die neugierigen Nachbarn nicht hören konnten. Aber nichts passierte. „Ob ich wohl lauter rufen muss?“ Addy kratzte sich am Kopf.
„Nein, ich hab‘s“. Lulu sprang vom Schlitten herunter in den winterlichen Schnee. „Wir sind zu schwer. Oder es ist, weil wir zu zweit sind. Die beiden Rentiere können uns nicht ziehen. Wir brauchen Verstärkung.“
Schnell lief Lulu ins Haus zurück und holte den Hund. Und tatsächlich – seine Nase glühte zwar nicht rot, aber immerhin rosa. Mit zwei Springseilen und einer Hundeleine spannte Lulu ihren Hund vor die Rentiere. Tatsächlich hatte sie kurz den Eindruck, als würde Fines Nase gleich noch ein wenig doller leuchten. Noch war es recht dunkel im Garten, da konnte man das gut sehen.
Lulu und Addy schauten sich noch einmal an, dann riefen sie gleichzeitig „Ho!“ Der Ruck des anfahrenden Schlittens warf sie in die Polster, dann hob das Gefährt auch schon ab und sauste durch die Luft. Während die Kinder hoch über den Häusern von Falkensee durch ein rasch einsetzendes Schneetreiben flogen, wussten sie, dass niemand sie sehen konnte. Das war die geheime Magie des Weihnachtsmanns.
Addy lenkte den Schlitten nach Brieselang. Dort, über dem dichten und laublosen Wald glomm tatsächlich ein gelbes Licht, das ihnen schon bald entgegenkam, sie umschwirrte und dann vorweg flog – wie ein Richtungsweiser. Es führte die beiden Kinder auf eine kleine Lichtung im Wald. So früh am Morgen blickten nur ein paar Wildschweine auf, die mit ihren Schnauzen nach Eicheln im aufgeworfenen Waldboden suchten. Sie verloren aber auch schon gleich wieder das Interesse, kaum dass der Schlitten gelandet war.
Addy sprang vom Schlitten und half seiner Schwester, ebenfalls herabzusteigen. „Du bleibst hier“, sagte Addy zu Fine, aber der Hund machte auch keine Anstalten, sich aus seinem Geschirr zu lösen. Sicherlich war es auch für ihn ein echtes Abenteuer, einmal als Rentierhund für den Weihnachtsmann tätig zu werden.
Etwas ratlos sahen sich Addy und Lulu um. Wo sollte sie denn jetzt eigentlich sein, die geheime Transportstation des Weihnachtsmanns? Da sprang direkt vor ihnen plötzlich ein kreisrunder und perfekt getarnter Deckel im Waldboden auf. Eine Leiter führte nach unten in ein hell erleuchtetes Gewölbe. Ein Elf mit spitzen Ohren und einer dienstlich aussehenden grünen Robe stand auf der Leiter und beäugte sie misstrauisch. Als sein Blick aber auf den Schlitten fiel, verdrehte er entnervt die Augen: „Hat sich der dicke Mann mal wieder im Kamin festgesetzt? Mensch, der muss weniger Kekse futtern. Los, kommt, macht schnell, der Siebenuhrzehn fährt gleich ein.“
Die beiden Kinder sahen sich belustigt an. Anscheinend brachte sich der dicke Weihnachtsmann öfters einmal in eine brenzlige Situation und war dann auf die Hilfe der Erdlinge angewiesen. Der Elf zog und schubste die Geschwister auf einen unterirdischen Bahnsteig, der fast so aussah wie der von der U-Bahn aus Berlin. Nur gab es hier nur eine einzelne Schiene und nicht zwei. Und an den aufwändig gekachelten Wänden hingen keine Werbetafeln, sondern flache Plasmabildschirme, die live zeigten, wie hunderte kleiner Elfen in der Weihnachtswerkstatt schufteten und rackerten, um letzte Hand an die fast fertigen Geschenke fürs große Fest zu legen.
Kaum standen sie vor den Gleisen, da erfüllte ein lauten Singen und Kreischen die Luft. Dann bog auch schon ein futuristischer, rot-grün angemalter Zug in den Bahnhof ein. Quietschend hielt er an und spuckte Dutzende Elfen aus, die eilig in alle Richtungen entwichen.
Der Elf neben Addy und Lulu stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihnen ins Ohr zu flüstern: „Geheimauftrag. Die ziehen jetzt los, um heimlich zu enge Kamine etwas breiter zu machen. Sonst bleibt der Weihnachtsmann morgen nicht nur bei euch im Kamin stecken, sondern in jedem vierten Haus. Der alte Mann futtert bestimmt die Hälfte unserer gesamten Keksproduktion weg – so kann das nicht mehr weitergehen auf die Dauer. Der Weihnachtsmann muss auf Diät.“
Lulu kicherte, aber ihr Bruder schob sie schon in den Zug. Hier gab es kleine Sessel, die leider ganz auf die Körpergröße der Elfen abgestimmt waren. Lulu konnte halbwegs bequem in ihrem Sessel sitzen, aber für Addy war es doch sehr unbequem. Es gab vier verschiedene Gurte, die sich anlegen ließen. Nur Sekunden später wussten sie auch, warum. Mit einem lauten Knall beschleunigte der Zug von jetzt auf gleich auf ein so wahnsinniges Tempo, dass Lulu das Gefühl hatte, ihr Magen wäre noch in Brieselang, während der Rest ihres Körpers bereits am Nordpol angekommen war.
Etwas grün im Gesicht torkelten die Kinder aus dem Zug – und blieben erst einmal erstaunt und fasziniert stehen. Sie standen in einer riesigen, ovalen Halle. Hunderte Elfen rannten umher, Gabelstapler verluden Geschenkeberge und auch das eine oder andere Rentier war zu sehen. Lulu staunte über die kleinen, dicken Engelchen, die an viel zu dünnen Flügelchen durch die Luft sausten. Sie schienen die Kontrolle über das weihnachtliche Chaos vor Ort zu haben, denn sie trugen alle Zettel und Klemmbretter in der Hand.
„Was sollen wir denn jetzt nur machen?“, meinte Lulu und sah sich hilflos um.
„Guck mal, da vorne ist ein Infostand“. Addy zog seine Schwester zu einem Infostand, hinter dem ein gelangweilt wirkender Elf stand.
„Hallo, wir kommen vom Weihnachtsmann. Er steckt in unserem Kamin fest.“ Lulu wusste bereits, dass der Elf die Augen verdrehen würde, noch bevor es wirklich passierte. Und er tat es. „Ach bitte, nicht schon wieder. Nun gut, Team A kann ich euch nicht schicken, die sind noch k.o. vom letzten Mal. Da muss ich euch wohl Team B mitgeben.“
Der Elf pfiff und drei Gnome erschienen – muskulös, schmal genug für den Kamin und sehr, sehr haarig. Einer von ihnen versuchte, freundlich zu lächeln, zeigte aber nur einen Haufen Zähne. Da war Lulu ganz froh, dass die Zugfahrt zurück nach Hause so schnell über die Bühne ging. Die Gnome hatten noch zwei Rentiere mit dabei, die sie mit vor die Kutsche spannten. Dann ging es auch schon schnell zurück nach Hause.
Als sie im Garten ankamen, war es schon hell, aber Lulus und Addys Eltern schliefen zum Glück immer noch. Leise und sehr schnell kletterten die Gnome aufs Dach. Einer von ihnen band sich ein Seil um den Bauch und wurde von den anderen in den Kamin herabgelassen. Dort fasste er um die Beine des Weihnachtsmanns und wurde dann auch schon wieder heraufgezogen – zusammen mit seiner schweren Last.
Kurze Zeit später kam der Weihnachtsmann im Garten an. „Vielen Dank, liebe Kinder“, brummte er und rieb sich die Nase. „Das ist mir ja noch nie passiert.“
Lulu und Addy kicherten. Sie wussten es besser. Während Fine abgespannt wurde und der Weihnachtsmann den Schlitten betrat, sagte er: „Ihr habt euch dieses Jahr ein besonders großes Geschenk verdient. Wenn Weihnachten keins unterm Baum liegt, dann steckt es bestimmt im Kamin fest.“ Dann lachte der Weihnachtsmann – und weg war er. (Carsten Scheibe)
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