Die Engelein kommen
Es klingelte an der Tür. Und noch bevor ich es schaffte, meinen Hintern aus dem Sessel zu wuchten, waren die Kids schon an der Tür und rissen sie auf. Ich wunderte mich sehr. Wer klingelte denn jetzt genau am Heiligen Abend an unserer Tür? Die Verwandten waren doch schon alle da. “Papa, Papa. Es ist der Weihnachtsmann!” Die Kinder riefen ganz aufgeregt durcheinander und wichen dabei vor der Tür zurück, um Platz zu machen.
Und Tatsache, da stand der Weihnachtsmann. Mit dickem Bauch, einer gewaltigen Nase, in einem dicken roten Frottee-Mantel und mit einem erkennbar falschen weißen Bart, in dem ich selbst aus der Entfernung einige Essensreste erkennen konnte. Auf dem Rücken trug der Weihnachtsmann den alten Kartoffelsack aus Jute, in dem ich vor genau einer Stunde die Geschenke von den Verwandten und von uns verstaut hatte. Den Sack hatte ich wie immer vor die Haustür gestellt, um später vorgeben zu können, dass der Weihnachtsmann ihn dort in Eile deponiert hatte, um schnell zu den anderen Kindern der Stadt weiterzueilen.
“Ja, Kinder, wollt ihr mich nicht hineinlaschen?”
Der Weihnachtsmann riss dabei die Arme in die Luft, wartete keine Antwort ab und lief ins Haus. Als er an mir vorbeilief, sah ich rote Äderchen in seinen Augen. Er zog einen grauenhaften Geruch nach altem Jutesack, Schweiß und billigem Rasierwasser hinter sich her. Und mein Gott, war das etwa eine Alkoholfahne?
Kaum hatte ich den Hund wieder eingefangen, der nach draußen entfleucht war, und die Tür geschlossen, da war vom Weihnachtsmann nichts mehr zu sehen. Er stand bereits in der guten Stube vor dem Weihnachtsbaum und machte ein lautes “Ho-Ho-Ho”. Und sah ich recht, hatte der fremde Mann dabei seine Hand auf dem Hintern meiner Frau?
Der Weihnachtsmann torkelte auf unser Sofa zu und ließ sich direkt zwischen den beiden Großmüttern in die Kissen fallen. Die Omas kicherten und meine Frau hakte mich unter und gab mir einen Schmatz: “Das ist aber lieb von dir, dass du doch noch daran gedacht hast, einen Weihnachtsmann für die Kinder zu organisieren. Sie sind zwar schon groß, aber so groß nun auch wieder nicht.”
Ich schüttelte den Kopf. “Das hab ich nicht. Ich weiß nicht, wo der herkommt.”
Meine Frau schüttelte amüsiert den Kopf. “Du und dein Humor. Vielleicht ist es ja sogar der echte Weihnachtsmann, was? Manchmal bist du selbst der größte Kindskopf hier.”
Der Weihnachtsmann schaute, eingerahmt von den Omas, auf und sah mir genau in die Augen. Er wusste genau, dass ich ihn durchschaut hatte. Aber was sollte ich tun? Ihn vor den Augen der Kinder rauswerfen?
Der Weihnachtsmann rieb sich den dicken Bauch mit beiden Händen und rief laut: “Ho-Ho-Ho, liebe Kinder. Der Weihnachtsmann hat ganz dollen Durst. Holt ihr mir vielleicht ein ganz großes Wascherglas?”
Eilfertig sprangen die Kinder auf und jagten in die Küche davon, um ein Glas zu holen. Sie stellten es vor dem Fremden ab und fragten ihn mit aller kindlichen Demut: “Was magst du denn gern trinken, Weihnachtsmann? Cola?”
“Ho-Ho-Ho”, sagte der Weihnachtsmann: “Vom Nordpol kam ich her, nur für euch. Da war es so bitterkalt. Wisst ihr, was mich jetscht ein wenig wärmen würde? Ein schöner Schnapps.”
Ein Schnapps? Der Alte spann ja komplett. So wie der aussah und sprach, hatte er heute schon einige Schnäppse gekippt. Doch niemanden schien es zu stören. Meine Frau und die Großeltern himmelten den Alten an, als würden sie ihn sofort adoptieren wollen. Die Kinder sprangen schon wieder auf: “Papa, Papa. Schnell – einen Schnapps für den Weihnachtsmann.”
Mein Gott, von mir aus. Vielleicht ging der Alte dann ja wieder. Ich schlurfte zum Schrank und holte die uralte Flasche Korn heraus, die bereits seit 14 Jahren in der Ecke stand und ungetrunken Staub ansetzte. Ich öffnete den Verschluss, trat näher und goss dem Weihnachtsmann etwa zwei Fingerbreit Korn in das Wasserglas. Keiner hatte es gesehen, aber der alte Mann war erstaunlich flink. In einer schnellen Geste drückte er den Flaschenboden nach oben und sorgte so dafür, dass ich das Wasserglas bis zum Rand füllte. Meine Frau schüttelte kritisierend den Kopf. Wie konnte ich dem armen Weihnachtsmann nur so viel Schnapps eingießen! Doch bevor ich mich versah, war das ganze Glas bereits zwischen den künstlichen Bärten des Weihnachtsmanns verschwunden.
Der ließ einen langen Rülpser ertönen und meinte: “Kinder, hapt ihr das gehört? Das war mein Rentier, der Rudi. Der ruft nach mir. Hört mal genau hin.”
Die Kinder legten die Köpfe schief und lauschten. Da kam auch schon der nächste Rülpser, aus tiefstem Grund hervorgebracht, und langgezogen wie ein tierisches Röhren. Es klang erstaunlich echt.
“Ja, Weihnachtsmann, ich höre den Rudi”. Das war Peter, mein Neffe. Der war noch nie ein besonders schlaues Kerlchen gewesen.
“Und jetscht packt mal eure Geschenke aus, während sich der Weihnachtsmann ein bisschen aufwärmt.” Sah ich das richtig, oder hatte der alte Mann schon wieder die Flasche mit dem Korn in der Hand?
Die Kinder fielen über den Jutesack her, schüttelten die von uns mühsam eingepackten und beschrifteten Geschenke heraus und verteilten sie, den auf Kärtchen zugewiesenen Namen entsprechend. Es dauerte kaum zehn Minuten, dann lagen Bücher, CDs, Lego-Bausätze, Anziehsachen und jede Menge Spielzeug auf dem Wohnzimmerteppich herum. Während die Kinder die neuen Sachen bestaunten, stopfte meine Frau das zerrissene Geschenkpapier in den Jutesack. Die Opas dösten vor sich hin, die Großmütter giggelten mit dem Weihnachtsmann, der sich wie ein Hahn im Korb benahm und sich schon wieder großzügig nachschenkte.
Nach einer Weile stand der Weihnachtsmann auf, wankte eine Weile hin und her und schaute dem kindlichen Treiben zu. “Ho Ho Ho”, machte er eine Spur zu laut. Und dann sagte er etwas, das ich diesem fremden Hochstapler niemals verzeihen würde: “Liebe Kinder, eure Eltern waren ja ganz schön knickrig. Und weil sie einsehen, dass sie ein wenig zu sparsam waren, hat euer Papa hier noch eine kleine Überraschhhhunk für euch. Er schückt gleich sein Portemonnaie und jeder von euch kleinen Rotznasen bekommt noch 50 Euro extra. Was schagt ihr dazu?”
Die Kinder jubelten, natürlich, hätte ich auch gemacht. Mir zogen sich die Bauchmuskeln zusammen, meine Augen wurden klein wie Schlitze und ich erdolchte den Weihnachtsmann mit mordlüsternen Blicken, während ich in meinem Geldbeutel nach drei Fünfzigern wühlte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine Frau mich erstaunt ansah. Sie dachte anscheinend noch immer, ICH hätte das alles inszeniert. Dabei hatte ich doch im Vorfeld immer am meisten darüber gemeckert, die Kinder würden zu viele Geschenke erhalten. Jetzt verstand sie die Welt nicht mehr.
Ich hatte derweil genug. Die Kornflasche war leer, der Weihnachtsmann voll – und ich würde der Farce nun ein Ende setzen.
“Kinder, das war aber lieb vom Weihnachtsmann, dass er uns doch besucht hat und so lange geblieben ist. Jetzt muss er aber wieder gehen. Die anderen Kinder warten sicherlich schon auf ihn.”
“Ohh”, machten die Kinder. Und ganz leise auch die Omas, die sich inzwischen bei dem Weihnachtsmann untergehakt hatten. Doch ich hatte Glück. Der alte Knabe stand wieder auf und sagte: “Ja, ich musch jezz los…”
In dem Augenblick klingelte es an der Tür.
“… um schur Tür zu gehen.”
Das an der Tür, das war bestimmt die Polizei, die diesen durchgeknallten Irren wieder einfangen wollte. Doch als der Weihnachtsmann kurz vor mir an der Tür ankam und sie aufriss, da stand da ein kräftiger, leicht gebeugter Mann mit tiefschwarzen Haaren und einem gewaltigen Bart. Auch er wankte schon ein wenig und hatte Probleme damit, seine beiden Augen in die gleiche Richtung schauen zu lassen.
Der Weihnachtsmann rief etwas zu laut: “Kinnder, da schaut mal her. Das ist der Knecht Ruprecht, der will euch auch mal besuchen kommen. Darf er reinkommen?”
Die Kinder rasteten völlig aus. “Knecht Ruprecht, Knecht Ruprecht, komm herein. Sollen wir dir unsere Geschenke zeigen?”
Bevor ich es mich versah, war der schmierige Fremde auch schon in meinem Haus. Und noch bevor ich es schaffte, selbst das Wohnzimmer zu betreten, hörte ich auch schon den Weihnachtsmann: “Ho Ho Ho, liebe Kinder, auch der Knecht Ruprecht kommt aus der Kälte und muss sich dringend aufwärmen. Meint ihr, ihr habt vielleicht auch für ihn einen kleinen Schnapps?”
Wütend knallte ich eine Flasche 17 Jahre alten Whiskey auf den Tisch, etwas anderes hatte ich nicht mehr. Eilfertig wie sonst nie hatten die Kinder ein zweites Wasserglas organisiert. Ich goss beide voll bis zum Rand, meine Widerstandkräfte erlahmten.
Knecht Ruprecht hob das Glas: “Isch erhebe mein Glas auf die Gaschtfreundschaft dieser lüüben Familie hier. Ich bin der Meinung, alle sollten mit anstoßen.”
Die Omas nickten begeistert und so musste ich auch noch eine Flasche Sekt köpfen und den alten Damen eingießen. Der Weihnachtsmann und sein Knecht kippten den Whiskey, als sei es Wasser.
Die Stimmung wurde ausgelassener, ich aber immer grießgrämiger. Ich hatte das Gefühl, zwei alten Säufern aufgesessen zu sein, die den perfekten Trick ausgeknobelt hatten, um sich zu Weihnachten volllaufen zu lassen. Und außer mir schien das niemand in der Familie zu begreifen. Die Kinder spielten zufrieden mit ihren Geschenken, die Omas lauschten einer Geschichte des Weihnachtsmanns vom Nordpol, der eine Großvater war eingeschlafen und schnarchte – und meine Frau guckte zufrieden, weil alle anderen zufrieden waren.
Einmal mehr versuchte ich, die Obergewalt über mein eigenes Heim wiederzuerlangen, zumal Knecht Ruprecht die eine Oma gerade nach Schnittchen befragte. Der Weihnachtsmann ließ auch schon wieder sein Rentier röhren, was die Kinder begeistert klatschen ließ.
“So”, sagte ich mit Nachdruck, während ich mich ächzend aus dem Sofa wuchtete. “Der Weihnachtsmann und der Knecht müssen nun wirklich gehen, Kinder. Ihr habt es ja gehört, das Rentier ruft nach ihnen.”
Meine kurze Ansprache sorgte für enttäuschte “Ohhh”s bei den Kindern – und auch bei den Frauen.
Doch dann passierte etwas, das ich in diesem Moment überhaupt nicht auf dem Radar hatte und das mich doch sehr aus dem Konzept brachte – es klingelte. Mein Widerstand brach von einer Sekunde auf die andere zusammen. Mein Gott, wer konnte DAS denn noch sein? Die kleinen Elfen aus der Werkstatt des Weihnachtsmanns? Sein garstiger Zwillingsbruder? Der Nikolaus, der noch auf einen Absacker vorbeischauen wollte?
Ich wankte schockiert zur Tür und riss sie auf. Vor mir standen zwei gertenschlanke Blondinen mit hüftlangen Goldlöckchen, die in einem plüschigen roten Bikini vor mir posierten, der deutlich mehr zeigte als auch nur ansatzweise versteckte. Ihre Füße steckten in ewig langen roten Stiefeln, die erst an den Oberschenkeln in einem weißen Fellstreifen endeten, die mich an den Bart des Weihnachtsmanns erinnerte.
“Wir sind die Engel vom Weihnachtsmann”, säuselten die beiden Schönheiten, die mich fast noch um Kopfeslänge überragten, sodass die vier anatomisch wichtigen Merkmale der Engel genau unter meiner Nase baumelten. “Und uns ist ganz schön kalt.”
Plötzlich wechselte meine Laune und ich zog die Tür weit auf. “Ihr müsst ja auch frieren, ihr habt ja kaum etwas an. Kommt bloß schnell herein.”
Und als ich den missbilligenden Blick meiner Frau im Nacken spürte, rief ich laut: “Kinder, wollt ihr, dass die Engelein vom Weihnachtsmann in der Kälte frieren?”
“Neeeeeeeeinnnn”, brüllten die Kinder. Und der Weihnachtsmann saß auf unserem Sofa und grinste. (Carsten Scheibe, alle Rechte vorbehalten)
Bild: Clipart.com
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