Scheibes Glosse: Lebensmüde auf dem Weg zur Schule
Ab und zu wage ich den Irrsinn und fahre meine Kinder morgens in die Schule. Dabei handelt es sich um das Lise-Meitner-Gymnasium in Falkensee. Aber ich weiß, dass diese lebensmüde Tour so auch an jeder anderen weiterführenden Schule im Ort stattfinden könnte. Bereits auf dem Weg die Spandauer Straße herunter sehe ich links und rechts die Fahrradfahrer, die zur Schule wetzen.
Ein einheitliches Bild: Die Jugendlichen tragen alle keinen Helm mehr. Anscheinend halten sie sich für unsterblich oder den Weg in die Schule für ganz besonders sicher – trotz nur kurz vorhandenem Radweg und allerlei widriger Passagen auf dem Weg zur Schule. Aber ja, genau so muss es sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Schüler bereits auf dem Weg zur Schule die Kopfhörer vom Smartphone im Ohr zu stecken haben. Modern sind inzwischen auch die teuren Kopfhörer mit den ganz dicken Ohrmuscheln. Sie werden um den Hals getragen, sodass sie die Radfahrer wie ein Autoradio beschallen können.
Im Nadelör der Ruppiner Straße vor dem LMG kann nur noch Schritt gefahren werden. Denn die Schüler haben sich morgens viel zu erzählen und fahren deswegen die letzten paar hundert Meter ganz entspannt in Dreierketten. Für Bus und Auto gibt es hier kein Vorbeikommen mehr. Also passt sich der Verkehr ganz dem Tempo der Radfahrer an. Auch wenn diese manchmal so langsam schleichen, dass die Räder dem Gesetz der Schwerkraft folgend eigentlich längst zur Seite kippen müssten. Aber wahrscheinlich werden sie wie ihre Fahrer längst vom Gesetz der Trägheit gesteuert.
Ein vorsichtiges Hupen stellt sofort unter Beweis, dass die Schüler auch mit nur einer Hand den Lenker des Rads noch gerade halten können. Die andere Hand brauchen sie nämlich, um mir ohne Hinzugucken den „Finger“ zu zeigen. Manche können sogar freihändig fahren. Dann bekomme ich gleich zwei Finger zu sehen. Gut, dass sich die Schüler nicht umdrehen. Nicht auszudenken, wenn ich einen von der Bagage erkennen könnte!
Irgendwann hab ich es geschafft, habe die Kinder rausgeworfen, konnte irgendwie drehen – und muss nun den Rückweg zur Falkenhagener Straße auf der Höhe des Hong Shun antreten. Und hier droht der nächste Kollaps. Von allen Seiten strömen die Fahrräder in die Ruppiner Straße hinein. Ich fahre nun gern beherzt mit dem Auto vor, um den Verkehr in der Falkenhagener Straße besser abschätzen zu können. Denn links abbiegen kann man hier nur, wenn die Ampel gerade auf Rot steht.
Aber auch hier habe ich die Rechnung ohne die Fahrradfahrer gemacht. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass ich als Autofahrer das Recht des Stärkeren auf meiner Seite habe. Aber weit gefehlt. Kaum schiebe ich mich in den Ameisenstrom der heranrauschenden Fahrradfahrer, fürchte ich um die Beulenfreiheit meines Wagens. Wütende Gesichter, quietschende Bremsen, eine Faust klatscht auf meine Motorhaube. Klarer Fall: Hier bin ich der Eindringling im Bienenschwarm, hier ist devotes und defensives Verhalten nötig, um nicht zermalmt zu werden.
Aber meine Genugtuung kommt: der Winter. Auf einmal ist Schluss mit dem Fahrradfahren und die auf dem Rad so gern Amok laufenden Teenager müssen sich schlotternd am Bus anstellen, um in die Schule zu kommen. Dabei fällt ihnen nur noch ein Schabernack ein: Mit Schneebällen von der Haltestelle aus auf die vorbeifahrenden Autos zu werfen. Sei es drum. Rutschende Reifen, zugefrorene Scheiben, alles ist mir lieber als durch die Fahrradhölle von Falkensee zu brettern. (Carsten Scheibe)
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