Analphabeten in Falkensee
Lesen und Schreiben – das sind für die meisten von uns Fähigkeiten, über die wir gar nicht lange nachdenken müssen. Sie wurden uns ja allen in der Schule vermittelt. Nun bietet die Volkshochschule in Falkensee Kurse für Analphabeten an. Und schon fragt man sich: Gibt es dafür überhaupt eine Klientel im Ort? Es kann doch nicht sein, dass Menschen bei uns in Falkensee nicht schreiben oder lesen können?
Dr. Frank Dittmer, Leiter der Volkshochschule Havelland (Poststr. 15, Tel.: 03321-4036718, www.vhs-havelland.de): „Über 7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen oder schreiben. Sie gelten als funktionale Analphabeten, die nicht in der Lage sind, einen Text sinnerfassend zu verstehen. Das sind 14 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Weitere 25 Prozent der Bevölkerung haben große Probleme damit, selbst die geläufigsten Wörter richtig zu schreiben. Das Problem Analphabetismus ist also deutlich größer, als die meisten glauben. Und – es wird leider nicht besser. Es gibt ebenso viele junge wie alte Analphabeten. Und es gibt keinen Unterschied zwischen Ost und West. Eher einen zwischen Männern und Frauen. Es sind nämlich mehr Männer betroffen.“
Analphabeten sind nicht dumm. Sie haben oft ausgetüftelte Vermeidungstaktiken entwickelt, um zu verhindern, dass jemand aus der Familie oder aus dem beruflichen Umfeld mitbekommt, was mit ihnen los ist. Ausreden wie „Ich habe meine Brille vergessen“, „Ich fülle das Formular Zuhause aus“, „Meine Hand ist verletzt“ oder „Die Schrift ist zu klein, ich kann das nicht lesen“ sorgen dafür, dass Analphabeten nicht in Situationen geraten, in denen sie klar sagen müssten: „Ich kann gar nicht schreiben.“
Dr. Frank Dittmer: „Das Schreiben und Lesen ist vor allem im Beruf fast unverzichtbar. 47 Prozent der Analphabeten sind trotzdem in Lohn und Brot. Sie üben aber meist einfachste Arbeiten in der Logistik, in der Gastronomie, im Handwerk oder im Servicebereich aus. Das Problem ist hier: Immer häufiger wird nun auch in diesem Bereich der Umgang mit Papier und Stift verlangt. Bei uns im Kurs war eine Putzfrau, die ihren Beruf früher ohne Probleme ausüben konnte. Nach einer Babypause wurde dann aber von ihr verlangt, tägliche Berichte über ihre Arbeit abzugeben und Bestellungen etwa für Putzmittel aufzugeben. Das führte sie dann direkt zu uns in die Volkshochschule.“
Inzwischen gibt es ein umfassendes Angebot, um Analphabeten aufzufangen. Kostenfrei lässt sich etwa das ALFA-Telefon (www.mein-schlüssel-zur-welt.de) unter der Nummer 0800-53334455 verwenden. Es wird vom Bundesverband Alpabetisierung und Grundbildung e.V. betrieben und bietet den Anrufern eine erste Beratung und Informationen über die verschiedenen Lernmöglichkeiten an. Auch Online-Portale wie Ich-will-lernen.de lohnen sich. Hier gibt es 31.000 Übungen, die dabei helfen, das Lesen am Bildschirm zu trainieren.
Die Volkshochschule bietet natürlich auch die Kurse direkt vor Ort an. Dr. Frank Dittmer: „Bei vielen Menschen, die zu uns in die Kurse kommen, wissen nicht einmal die Angehörigen, dass sie bei uns sind und Lesen und Schreiben lernen. Oft schämen sich die Analphabeten und haben diese Scham über die Jahre so verinnerlicht, dass es ihnen schwer fällt, sich einem Familienmitglied, einem Kollegen oder gar dem Chef anzuvertrauen. Dabei hilft nichts besser im Lernvorgang als die aktive Unterstützung und die Fürsprache des persönlichen Umfeldes.“
In den Förderkursen „Grundbildung“ lernen die Analphabeten das Lesen und Schreiben, aber auch das Rechnen und grundlegende PC-Kenntnisse. Ziel soll es sein, den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich wieder im Alltag zu bewähren. In den letzten zwei Jahren wurden in Falkensee und Rathenow 85 Lernende in den Kursen angeleitet. In Falkensee gibt es zurzeit einen Basiskurs für Anfänger und einen Kurs für Fortgeschrittene. Pro Kurs sind 4 bis 10 Personen mit dabei, die sich zwei Mal in der Woche für zwei bis drei Stunden am Stück treffen. Ein kostenloser Kurs geht dabei über 90 Stunden, das sind vier Monate.
Dr. Frank Dittmer: „Es ist toll, wie sehr sich unsere Kursteilnehmer gegenseitig unterstützen. Und wie sie sich über Erfolge freuen. Als wir von unserer Raumpflegerin nach einem Jahr Kurs die erste selbstgeschriebene Urlaubspostkarte bekommen haben, standen uns auch die Tränen in den Augen.“ (Text/Foto: CS)
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