Stolperstein-Tour 2020: 3. Historische Radrundfahrt zu Erinnerungsorten!
Etwa vierzig neugierige Havelländer fanden sich am 5. September mit dem Rad vor der Seegefelder Kirche in Falkensee ein. Weder graue Wolken noch leichter Nieselregen konnte den Appetit der Radelnden nach historischen Informationen ausbremsen: Alle Teilnehmer wollten gern mehr erfahren über besondere Erinnerungsorte in der Gartenstadt. Verantwortlich für die inzwischen dritte „Historische Radrundfahrt“ ist die lokale „Vorbereitungsgruppe Stolpersteine“ (www.stolpersteine-falkensee.de).
Sie wurde 2006 gegründet und hat seitdem 40 regionale Stolpersteine in den Bürgersteig eingesetzt – immer vor dem Haus, in dem jüdische Mitmenschen, die in der Nazizeit den Tod gefunden haben, zuletzt gelebt hatten. Die Vorbereitungsgruppe wollte eigentlich bereits im April aufs Rad steigen, musste den Termin aber Corona-bedingt um einige Monate verschieben.
Acht historische Stationen standen auf der Agenda der etwa zweistündigen Rundfahrt, die u.a. von Ines Oberling, Thomas Lenkitsch, Klaus-Peter Mentzel und Uwe Ulrich vorbereitet worden war.
Den Start machte die Seegefelder Kirche selbst. Pfarrerin Gisela Dittmer bat die Besucher in das Gotteshaus und erzählte, dass die Kirche das älteste Bauwerk Falkensees sei. Mitte des 13. Jahrhunderts wurde sie zunächst nur als rechteckiger Feldsteinbau mit Westturm errichtet: „Das war damals noch keine Kirche, sondern ein Wach- und Wehrturm für das Dorf Seegefeld“.
Gisela Dittmer mahnte auch, die Vergangenheit nicht zu vergessen: „Die Bahnhofstraße, das war früher die Adolf-Hitler-Straße. Hitler wurde damals nach der Machtergreifung ganz schnell Ehrenbürger von Falkensee. Da weiß man, in welcher Nachbarschaft sich die Kirche befand. In der Adolf-Hitler-Straße fanden viele Aufmärsche statt, da wurde viel geschrieen. Später wurden hier entlang die Menschen zum Bahnhof getrieben, um in die KZs gebracht zu werden. Wir haben viel daran zu arbeiten, die jüdische Geschichte in Falkensee aufzuarbeiten, da haben wir erst an der Oberfläche gekratzt.“
Gleich neben der Kirche befindet sich heute ein Parkplatz mit einem alten Brunnen in der Mitte. Hier stand früher einmal das im 17. Jahrhundert erbaute und später von einer Glienicker Linie der Familie von Ribbeck bewohnte Gutshaus Falkensee. 1932 kaufte die Gemeinde Falkensee das Haus, das 1937 als Parteihaus der Nationalsozialisten eine neue Verwendung fand. Vor dem Parteihaus wurden die 1.-Mai-Feiern abgehalten. In den 50er Jahren verfiel das Haus, 1960 wurde es abgerissen. Thomas Lenkitsch: „Wir plädieren dafür, den Grundriss des Gutshauses bei einer späteren Neugestaltung des Gutsparks zu markieren, um auf diese Weise auf diese Historie Falkensees hinzuweisen.“
Auf dem Areal wurde nach dem Krieg auch ein Denkmal errichtet – mit dem Spruch „Die Opfer mahnen“. Thomas Lenkitsch: „Im Sozialismus hat man diesen Text um sozialistische Sprüche erweitert. Als dann die alte Stadthalle gebaut wurde, verschwand das Denkmal – und ein neues wurde direkt gegenüber vom Rathaus errichtet. Nun gedachte man allen Toten und nicht mehr nur den Opfern. Auch darüber sollte man einmal nachdenken.“
Auf der anderen Seite des Gutsparks findet sich die Katholische Kirche St. Konrad von Parzham. Hier wirkte von 1935 bis 1942 Pfarrer Heinrich Tomberge. Er war bekennender Gegner der Nationalsozialisten, setzte Kinder jüdischer Bürger als Messdiener ein und half den Verfolgten. Mehrfach wurde er von der Gestapo verhört und schließlich gefangen genommen. Dass er nicht ermordet wurde, liegt allein daran, dass sich ein wichtiger Zeuge im Krieg befand und man auf seine Rückkehr warten wollte. Inzwischen wurde ihm zum Gedenken der Weg durch den Gutspark in „Pfarrer-Tomberge-Weg“ umbenannt.
Kaum zu glauben: Die Nazis planten, im Gutspark eine große Anlage für die Hitlerjugend zu bauen – mit einer Feierhalle (beim Kleintierzüchterheim), zwei Heimgebäuden und einem Freibad (etwa beim Scharenberg-Parkplatz). Umgesetzt wurde allerdings nur eins der Heime. Hier ist heute ein Kindergarten untergebracht. Sicherlich ist das eine bessere Verwendung für das Bauwerk.
Die Radfahrt führte auch in die Ulmenstraße 6, sodass die Radfahrenden wenigstens einen goldfarbenen Stolperstein persönlich in Augenschein nehmen konnten. Stolpersteine sind inzwischen in ganz Deutschland zu finden. Der Nauener Gunter Demnig hatte die Idee, mit diesen kleinen Gedenksteinen mitten im Straßenbild an die schwarzen Flecken unserer Geschichte zu erinnern. Zum Stein in der Ulmenstraße: Die damals 67-jährige Oberin a.D. Minna Rosa Cohn wollte hier in Falkensee ihren Lebensabend verbringen. Sie wurde am 20. November 1942 wegen ihrer jüdischen Herkunft nach Theresienstadt deportiert, wo sie kurze Zeit später verstarb.
Viele Falkenseer haben noch nie davon gehört, dass zur Gleisanlage vor Ort auch ein eigener Güterbahnhof mit dazu gehört. Er wurde ursprünglich für die Errichtung und Belieferung eines Reichsbahnausbesserungswerks gebaut. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gelände aber von der DEMAG (Deutsche Maschinenbau-Aktiengesellschaftt) zur Produktion von Waffen verwendet. Vor allem Kettenfahrwerke für Geschütze wurden vor Ort in Falkensee montiert. Zu DDR-Zeiten war der Güterbahnhof wichtig für die Logistik der Grenzsicherung. Als nach der Wende eine „kreuzungsfreie Trasse“ für die Strecke zwischen Berlin und Hamburg umgesetzt wurde, verlor der Güterbahnhof nach dem Tunnelbau jede Bedeutung. Die Stadt Falkensee überlegt, auf dem Gelände ein Parkhaus zur Aufnahme des zentrumnahen Verkehrs rund um die Bahnhofstraße zu errichten.
Die Radtour endete am Falkenseer Bahnhof. Der lässt heute wenig historische Einflüsse erkennen, hat aber dennoch eine umfassende Vergangenheit. Bereits im Jahr 1848 wurde hier der Bahnhof Seegefeld errichtet. 1927 wurde er in Bahnhof Falkensee umbenannt. Von 1951 bis 1961 fuhr hier sogar die elektrische S-Bahn. Das repräsentative Empfangsgebäude gehörte lange zu den Wahrzeichen der Stadt – heute gibt es das leider nicht mehr.
Spannend: Zu DDR-Zeiten kam es in Falkensee sogar zu einem spektakulären Fluchtversuch – mit einer Bahn. Damals gab es auf der Schienenstrecke vor Albrechtshof ein Metalltor, das nur für den Interzonenzug geöffnet wurde. Am 5. Dezember 1961 durchbrach Harry Deterling mit seiner ganzen Familie an Bord eines Zuges im vollen Tempo das Metalltor und entkam so in den Westen. Die Flucht war minutiös geplant, sogar die Notbremse hatte man vorher heimlich deaktiviert. Nicht alle Passagiere an Bord waren eingeweiht, einige von ihnen traten die Flucht in den Westen ganz unwissentlich an – einige kehrten anschließend sogar wieder in die DDR zurück. Die DDR reagierte prompt – und demontierte bereits einen Tag nach der später verfilmten Flucht die Gleise. Der Interzonenzug wurde nun über Wannsee umgeleitet. (Text / Fotos: CS)
Dieser Artikel stammt aus „FALKENSEE.aktuell – Unser Havelland“ Ausgabe 175 (10/2020).
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